Blick vom Haneggkogel auf den Schöckl | © TV Region Graz | Mias Photoart Blick vom Haneggkogel auf den Schöckl | © TV Region Graz | Mias Photoart

Thomas Bernhard und die weißen Kerzen

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  • Advent, Christbaum, Graz
Hätte es den Schriftsteller selig Thomas Bernhard einmal hierher verschlagen – was unwahrscheinlich, aber für diese Geschichte durchaus möglich ist –, hätte er wohl geraunzt und gesagt: „In Hausmannstätten muss man nicht gewesen sein!“ Ich hätte ihn dann angeschaut, genickt und geantwortet: „Ja, eh, aber …“

Und dann hätte ich Thomas Bernhard erzählt, was ich mit diesem „aber“ meine. Hausmannstätten also: 3701 Einwohner (Stand 1. Jänner 2022), liegt südöstlich von Graz inmitten des sogenannten Speckgürtels. Der Ort, pardon, die Marktgemeinde, ist keine Schönheit, und obwohl es einen Umfahrungstunnel gibt, braust der Verkehr durchs Zentrum, wenngleich: Ein solches gibt es eigentlich gar nicht. Sehenswürdigkeiten: keine gesehen.
„Aber, Thomas“ – denn inzwischen sind wir per Du, was bei diesem großen Grantler und genialen Schriftsteller schon eine Ehre ist. Aber also: Hier bin ich aufgewachsen, hier steht das Bankerl, auf dem ich ungeschickt das erste Mal ein Mädchen küsste; dort drüben, ausgerechnet auf dem Kirchplatz, habe ich meine erste Watschen vom Dorfrowdy bekommen; und wenn man durch die Dorfstraße geht, kommt man an den Ferbersbach und jenen Platz, wo der Rauch der ersten Zigarette im Hals gekratzt hat. Auf dem Ortsfriedhof liegen meine Großeltern und meine Mutter begraben und hier werde auch ich eines hoffentlich fernen Tages, na, du weißt schon.
Kurz: Hausmannstätten ist, Achtung, großes Wort: Heimat. Und jetzt, Thomas, warten wir alle auf den Advent. Wie wird er werden diesmal, im großen Schatten des Krieges, der Teuerungen, der Unsicherheiten, Ängste und der Verzweiflung? Wenn alles schlechter wird, verleitet das dazu, zu glauben, dass früher alles besser war. Aber das ist selbstbetrügerischer Unsinn. Es war früher nicht alles besser – aber anders.
Und vielleicht könnten wir dieses „anders“ wieder anzapfen. Vielleicht könnten wir wieder mit weniger auskommen – und nicht nur deshalb, weil wir dazu gezwungen sind. Vielleicht könnten wir wieder langsamer werden – und nicht nur deshalb, weil uns die Luft ausgeht. Konkret stelle ich mir das so vor, Thomas: Die aufblasbaren Weihnachtsmänner und blinkenden Rentiere lassen wir diesmal in den Schachteln. Stattdessen stellen die Menschen große, weiße Kerzen in ihre Fenster. An den Adventsonntagen wird der Ort für den gesamten Verkehr gesperrt. Statt Punschstände werden Plauderecken eingerichtet, der Generationenpark wäre dafür der ideale Ort. Zum Essen und Trinken gibt es in diesen Plauderecken: nichts. 

Denn was die meisten natürlich längst vergessen haben: Adventzeit war früher Fastenzeit.

Höchstens, das wäre ein vertretbarer Kompromiss, Bratäpfel werden serviert. Der Duft davon durchzieht dann den ganzen Ort – und nicht die Alkschwaden von Punsch und Glühwein. In den Plauderecken reden dann die Menschen miteinander. Die Einheimischen und die Dazugekommenen. Auch jene, die vielleicht eine andere Hautfarbe oder Religion haben. Denn auch für sie, die ihr Land verlassen mussten, ist Hausmannstätten jetzt: Heimat. Die Jungen und die Alten reden auch miteinander, die Ängstlichen und die Zuversichtlichen, die Zufriedenen und die Nörgler. Wir werden uns nicht über alles einigen. Aber vielleicht können wir uns darauf einigen, weiter miteinander zu reden. Nicht nur in der Adventzeit.
Thomas sieht mich mit einer Mischung aus Entgeisterung und Ungläubigkeit an. „Was du dir da vorstellst, ist doch ein verfrühtes Weihnachtswunder, naive Schwurbelei, romantischer Hokuspokus, eine Utopie.“ Und ich werde antworten: „Ja, eh. Aber wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ „Vielleicht sollte man doch einmal in Hausmannstätten vorbeischauen“, grummelt Thomas Bernhard. Und verschwindet. Oder habe ich mir eingebildet, dass er überhaupt hier war? Ich spaziere durch die Dorfstraße, vorbei an den alten Bauernhäusern mit Vulgonamen: Moarpeter, Kernhiasl, Wastlpeter, Schmalzl, Frießheigl. Weiter unten; dort, wo schon die Felder beginnen, steht auf einer Straßenseite ein riesengroßes schlossartiges Gebäude, umgeben von einer hohen Betonmauer. Es hat den Eigentümern nie Glück gebracht. Auch jetzt ist es leer, unbewohnt, verlassen. Daneben eine Plakatwand mit verwitterten Hochglanzfotos. „Premium Living“ steht darauf. Auf der anderen Straßenseite steht ein kleineres, langgezogenes, geducktes Haus. Es ist rundum etwas verwildert, aber bewohnt. Aus dem Kamin kringelt sich Rauch in den grauen Himmel. Ich gehe weiter. Oben, vor dem Eingang der Kirche, ein steinernes Denkmal mit folgender Inschrift: „Der Erzeuger des ersten eisernen Halbpfluges, Pangraz Fuchs.“
Am ersten Adventsonntag wird auch in einem Fenster meines Hauses eine weiße Kerze stehen. Daneben ein Stein, den ich vor vielen Jahren aus England mitgebracht habe. Darauf steht folgender Spruch: „Live within your Harvest“. Also: Lebe innerhalb deiner Ernte, deiner Möglichkeiten, deiner Verhältnisse. Vielleicht sollte das auch der Leitspruch für den Advent 2022 werden – nicht nur deshalb, weil es notwendig sein wird.
Es war früher nicht alles besser – aber anders. Und vielleicht könnten wir dieses „anders“ wieder anzapfen. Vielleicht könnten wir wieder mit weniger auskommen. Vielleicht könnten wir wieder langsamer werden.

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit der Kleinen Zeitung entstanden.